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Lauter!

Eine kleine, aber feine Buchhandlung in Berlin hatte mich im Herbst 2014 eingeladen, aus meinem Debütroman „Nachbarn“ zu lesen. Es war eine meiner ersten Lesungen, ich hatte nach jahrelanger stiller Arbeit am Schreibtisch noch keine Routine im Umgang mit öffentlichen Auftritten und war etwas aufgeregt. Als ich in Berlin ankam, schüttete es in Strömen. Ich fuhr sofort zu dem Hotel, das man mir gebucht hatte. Das Hotel, ein gediegener Altbau, sah von außen imposant und elegant aus.

 

Der Portier an der Rezeption trug einen graumelierten Pullover, welcher, ähnlich wie das Foyer des Hotels, seine besten Tage schon hinter sich hatte. Er saß weit entfernt vom Empfangstresen und starrte auf den Bildschirm eines riesigen, kastenförmigen Computers, der noch aus der Schlacht um Stalingrad stammen musste. Neben ihm stand eine Kaffeetasse mit der Aufschrift „Chef“. Sonst war kein Mensch weit und breit zu sehen. Ich räusperte mich. Irgendwo schlug eine Uhr. Ich räusperte mich erneut. Stille. Ich sagte meinen Namen und erklärte, dass man hier ein Zimmer für mich gebucht hätte, er starrte weiter auf den Bildschirm, zeigte dann auf eine Schachtel, in der etwa hundert altmodische Zimmerschlüssel mit Ziffern standen, und sagte: „113“.

 

Das Hotelzimmer war so winzig, dass ich bereits an der Eingangstür über das Einmannbett stolperte, dabei die schwere Stehlampe zum Schwanken brachte, die auf der anderen Seite des Bettes stand und die schließlich auf meinen Rücken krachte. Aber immerhin: Das Licht funktionierte.

 

In der Buchhandlung wartete man schon auf mich. Die Moderatorin des Abends, eine reizende, liebenswürdige ältere Dame wollte mit mir den Ablauf des Abends besprechen. Sie hatte einen schweren Aktenordner unter dem Arm, in dem sie ihre Fragen abgeheftet hatte.

 

Punkt acht sollte die Lesung beginnen, der Buchhändler entschuldigte sich, um die Ecke würde Daniel Kehlmann lesen, daher würde man mit weniger Menschen bei meiner Lesung rechnen. Ich sagte, das sei völlig in Ordnung.

 

Das Publikum bestand aus einer Freundin, meinem Lektor, ein junges Pärchen saß in der letzten Reihe, und direkt in der ersten Reihe hatte sich ein älterer, rundlicher Herr in einem Anorak niedergelassen, der demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkte und mich missmutig ansah. Er erinnerte mich an eine meiner Hauptfiguren im Roman, Karl Fritzsche, und ich schloss ihn sofort ins Herz, was jedoch, zu meinem Bedauern, nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.

 

Die Moderatorin stellte das Buch ausführlich vor. Eine halbe Stunde war vergangen. Ich sollte nun etwas lesen, hob an... „Lauter!“ schallte es plötzlich aus der ersten Reihe. Und nochmal ohne Pause, aber mit umso heftigerer Verärgerung in der Stimme: „Lauter!“

 

Der Techniker versuchte mein Mikrofon zu optimieren, ein scharfes Fiepen zerschnitt den Raum, alle hielten sich die Ohren zu. Karl Fritzsche nickte zufrieden. Schließlich las ich fünf Seiten und klappte das Buch zu. Die Moderatorin lächelte und sagte: „Lesen Sie ruhig noch das Kapitel zuende.“ Eine Stunde war vergangen.

 

Die Moderatorin kam auf gesellschaftliche, historische und soziologische Fragen und Problemstellungen im Allgemeinen und in meinem Roman zu sprechen, dafür hatte ihr der Buchhändler extra den zweiten Aktenordner gereicht. Anschließend sollte ich erneut lesen. Ich las drei Seiten und klappte das Buch zu. Die Moderatorin lächelte und sagte: „Lesen Sie ruhig noch das Kapitel zuende.“ Zwei Stunden waren vergangen.

 

Die Moderatorin kam jetzt auf das literarische Leben in der Romantik zu sprechen. Sie entschuldigte sich, das hätte mit meinem Roman jetzt nichts zu tun, aber sie habe darüber promoviert, ein weites Feld, ganz wunderbar, man könnte ewig darüber diskutieren. Ich hörte ihr zu. Karl Fritzsche seufzte hörbar schwer. Zweieinhalb Stunden waren vergangen.

 

Das junge Pärchen stand jetzt auf, bat mich, den Roman zu signieren, und entschuldigte sich: „Wir müssen jetzt zum Bus.“ Meine beste Freundin war eingeschlafen, mein Lektor hielt sich noch tapfer oder erweckte zumindest den Anschein, und ich fragte mich, was Daniel Kehlmann jetzt wohl machte.

 

Die Moderatorin begann gerade den Bogen von der Romantik zurück zur Klassik zu spannen, als Karl Fritzsche schwerfällig aufstand und mit großer Emphase rief: „Jetzt ist aber mal gut!“ Ich nickte ihm dankbar zu, was er jedoch völlig ignorierte. Laut krachend flog die Tür der Buchhandlung hinter ihm zu, wovon der Buchhändler, meine beste Freundin und mein Lektor aufwachten.

 

Als ich mich kurz nach der Lesung, also so gegen halb vier, auf den Weg ins Hotel machte, schüttete es in Strömen. Im Hotel hatte man das Licht gelöscht. Komplett. Mithilfe meines leuchtenden Handydisplays fand ich mein Zimmer und legte mich sofort in das Einmannbett. Für das Anziehen eines Schlafanzuges fehlte der Platz.

 

Am nächsten Morgen wachte ich auf, als ich das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels hörte. Ich erschrak. Direkt vor meinem Bett stand der Portier, neben ihm eine Frau mit einem Rollkoffer in der linken Hand. Beide starrten mich erbost an. Der Portier blinzelte. Dann fiel ihm offensichtlich wieder ein, dass das Hotel einen Gast hatte. Er blickte auf die Uhr und sagte, das Zimmer sei reserviert. Ich müsse auschecken. Ich sah auf die Uhr. Es war 06:30 Uhr.

 

An der Tür des Frühstücksraums hing ein Schild: „Vorübergehend geschlossen“.

 

Am Hauptbahnhof in Berlin holte ich mir einen Kaffee, schließlich kam eine Durchsage: Der ICE nach Leipzig falle aus, der nächste würde erst in zwei Stunden kommen. Es war sieben Uhr morgens. Ich saß am Bahnsteig, blickte auf die Werbung eines Reiseunternehmens, blickte auf Palmen, Strand und ein Segelboot. Ich fragte mich, was Daniel Kehlmann jetzt wohl grade machte, und dachte über einen Berufswechsel nach. Vielleicht Hotelbranche.

© Madeleine Prahs

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